E-Mobilität und Reifen: Das Rad muss nicht neu erfunden werden

NEWS / 29.10.2021

E-Mobilität und Reifen: Das Rad muss nicht neu erfunden werden

Die Autobauer stehen unter Strom. Markt und Politik fordern mehr Elektromobilität - und zwar schnell. Die Branche erlebt deshalb gerade den grössten technologischen Umbruch ihrer Geschichte. Was bedeutet das für die Reifenhersteller? Dieser Frage ist der Reifen-Verband Schweiz an einem Seminar in Lenzburg nachgegangen.

2035 könnte Schluss sein. Gemäss Plänen der EU sollen ab diesem Zeitpunkt nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zugelassen werden. Der Verband Swiss eMobility fordert dasselbe für die Schweiz. Diese hat aber noch keinen Ausstiegstermin fixiert. Das Kriterium "emissionsfrei" erfüllen zurzeit nur Elektroautos. Klar, dass die Autobauer primär auf diese Technologie setzen. Ein disruptiver Vorgang: Der Verbrennungsmotor, der während hundert Jahren für Antrieb auf den Strassen gesorgt hat, muss in kurzer Frist substituiert werden.

Strom statt Benzin und Diesel lautet also die Devise. Das fordert nicht nur die Autobauer. Auch die Energieversorger müssen ran. Und natürlich die Zulieferer der Automobilindustrie. Zu Letzteren gehören die Reifenhersteller. Was bedeutet es für sie, wenn immer mehr Fahrzeuge mit Elektroantrieb unterwegs sind? Der Reifen-Verband Schweiz (RVS) wollte es genauer wissen. Er lud deshalb Mitte September seine Mitglieder zu einem Seminar nach Lenzburg. Drei ausgewiesene Referenten führten durch die Thematik.

Den Auftakt machte Krispin Romang vom Verband Swiss eMobility. Er machte klar, warum die Elektromobilität gerade den Markt auf den Kopf stellt. Autos mit Elektromotor liegen gegenüber Autos mit Verbrennungsmotor ökologisch und ökonomisch in Front. Sie haben - über den Lebenszyklus gerechnet - eine rund fünfzig Prozent bessere Ökobilanz (Paul Scherrer Institut, 2020) und verursachen tiefere Vollkosten. Sie stossen kein CO2 aus und machen gegenüber den Verbrennern auch bezüglich Anschaffungspreis rasant Boden gut. 2025 - so die Prognose - könnte die Preisparität erreicht sein.

Alles im grünen Bereich also? Nicht ganz. Ein paar gewichtige Probleme harren noch der Lösung. Herausforderung Nummer eins: Elektromobilität setzt stabile Netze für den steigenden Strombedarf voraus. Herausforderung Nummer zwei: Der Strom muss zur Autobatterie. Für Experten wie Krispin Romang ist klar: Tanken werden wir künftig zu Hause und über Nacht. Es braucht also in jedem Haus eine Ladeinfrastruktur. Kein einfaches Unterfangen in einem Land mit über 70 Prozent Mieterinnen und Mietern. Die Politik muss also liefern - bezüglich Stromversorgung und Ladeinfrastruktur.

Gefordert sind auch die Zulieferer. In erster Linie die Hersteller von Batterien. Sie müssen an den Parametern Reichweite, Gewicht, Ladezeit, Umweltverträglichkeit und Sicherheit arbeiten. Dabei sind in absehbarer Zeit revolutionäre Durchbrüche möglich. Zum Beispiel Reichweiten von bis zu 1000 Kilometern. Keine Revolution erwarten dagegen die Reifenhersteller. Das wurde aus den Referaten von Daniel Bäuning (Continental) und Norbert Allgäuer (Pirelli) deutlich. Das Rad bzw. der Reifen muss wegen der Elektromobilität nicht neu erfunden werden, die meisten E-Autos fahren heute mit konventionellen Pneus. Trotzdem forschen die Hersteller intensiv, um das Potenzial durch eine adäquate Bereifung besser auszuschöpfen. Denn der Elektroantrieb verändert einige für die Reifen wichtige Parameter.

Die drei wichtigsten: Rollwiderstand, Laufleistung (Abrieb), Reifengeräusche. E-Autos haben eine begrenzte Reichweite - das verschiebt den Entwicklungsfokus auf den Rollwiderstand; E-Autos haben ein höheres Antriebsmoment und bringen mehr Gewicht (Batterie) auf die Strasse - das erhöht den Abrieb; und E-Autos sind leiser - das verändert die Geräuschwahrnehmung im Fahrzeug. Hinzu kommt, dass die Autohersteller Druck aufsetzen: Jede Komponente des E-Autos soll dazu beitragen, Reichweite, Ökobilanz, Fahrkomfort und Rentabilität zu steigern. Denn die Konkurrenz ist gross.

Sowohl Continental als auch Pirelli stecken daher beachtliche kreative Energie in die Optimierung ihrer Reifen - um Energie beim E-Auto einzusparen. Zur Minimierung des Rollwiderstands optimieren sie beispielsweise die Aufstandsfläche (grössere Räder, optimierte Laufflächen). Das hat Potenzial: Ein E-Auto erzielt mit solchen Reifen drei bis vier Prozent mehr Reichweite. Allerdings stecken die Hersteller beim Rollwiderstand in einem Zielkonflikt: Weniger Rollwiderstand bedeutet oft weniger Grip. Deshalb tüfteln die Hersteller an der perfekten Gummimischung, um diesen Nachteil wettzumachen.

Um den Abrieb zu minimieren, setzen die Reifenhersteller ebenfalls bei der Gummimischung an, bezüglich Laufgeräusche bei der Reifengeometrie und der Profilaufteilung. In beiden Bereichen sind in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte erzielt worden. Gemäss den Referenten hat sich die Laufleistung eines Reifens faktisch verdoppelt, und es gibt deutlich leisere Produkte. Nicht zuletzt sind die Reifenhersteller auch bezüglich Nachhaltigkeit gefordert. Auch hier gibt es Erfolge. Der Anteil nachwachsender und recycelter Materialien im Reifen steigt, der Materialverbrauch und damit das Gewicht sinken.

Gleichzeitig befasst sich die Reifenindustrie bereits mit der nächsten Herausforderung, jener des autonomen Fahrens. Gefragt sind mit Sensoren ausgestattete Reifen, welche den Bordcomputer mit Informationen über den Zustand der Strasse und des Reifens versorgen. Was für die E-Mobilität gilt, dürfte auch hier gelten: Das Rad bzw. der Pneu muss nicht neu erfunden, aber optimal auf die neue Technologie ausgerichtet werden. (pd/ml)

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